Seit Tagen haben sie schon auf ihn gewartet, den Volkszähler. Sie waren nicht sicher, wodran man ihn erkennt, aber als er da war, war es klar.
Er hatte seinen Golf in der Bartelsstraße geparkt und langsamen Schrittes begab er sich in die Susannenstraße, Hausnummern suchend, was ja hier schwierig ist, da die Zählweise so ungewöhnlich ist. Die Zahlen beginnen ja auf der St-Pauli-Seite am Schulterblatt, laufen durch bis zur Schanzenstraße und dann auf der Eimsbüttler Seite wieder zurück.
Der orientierungssuchende Blick des, sagen wir mal, Junglehrers konnte ihn schon verraten, aber als sie diesen so unauffälligen Pappkarton unter seinem Arm, den Zählerkoffer, sahen, wussten sie es.
Trillerpfeifenkonzert, schnell vergrößerte sich die Junge-Leute-Gruppe, ja, das war abgesprochen, wenn der Zähler da ist, dann machen sie ihm das Leben schwer.
Hastig trippelte der arme Mann auf die nächstbeste Haustür zu und drückte mehrere Klingelknöpfe gleichzeitig, der Türsummer erlöste ihn … vorerst.
Um die zwanzig aktive Volkzählungsboykotteure sammelten sich vor der Haustür Susannenstraße 15 und skandierten sich langsam in Stimmung: „Zählt nicht uns, zählt eure Tage...Zählt nicht uns, zählt eure Tage!“ unter Tambourin- und Trillerpfeifen-Begleitung und sie tanzten.
Die Haustür öffnete sich und des Zählers geweiteten Augen versuchten die Situation auf der Straße zu erfassen.
Sein „Lasst mich doch, ich muss das doch machen!“ ging im Geräuschpegel fast unter, nur ein, zwei lachten dazu.
Er drängelte sich auf den Fußweg, ein bisschen wurde er schon geschubst, aber er kam durch, auf den Weg zur nächsten Haustür, wie der Rattenfänger mit seinem Tross hinterher.
Wieder Klingelversuche an allen Knöpfen, aber kein erlösendes Surren machte ihm den Weg frei. Weiter, weiter zur nächsten Chance.
Blaulichtblitze von beiden Seiten der Straße, Polizistenstiefel trampelten.
Acht Bürger wurden auf dem Bürgersteig vorläufig festgenommen, auch wenn sie behaupteten, sie gängen nur zufällig hier in der Susannnestraße spazieren, das sei doch nicht verboten. Zur Sportschau waren sie wieder zuhause und konnten die Übertragung der Spiels BVB gegen den HSV aus Dortmund sehen. ...Und die großen weißen Spraylackbuchstaben auf dem grünen Rasen:
BOYKOTTIERT UND SABOTIERT DIE VOLKSZÄHLUNG. Und die Ergänzung mit einer etwas anderen Schrift vorweg DER BUNDESPRÄSIDENT und hintendran NICHT: also nun: Der Bundespräsident: boykottiert und sabotiert die Volkszählung nicht.
Und der HSV verlor das Spiel.
Ja, so war das damals, die Volksbefragung 87 wurde von vielen als große Bedrohung für den Einzelnen empfunden, George Orwell und der GROSSE BRUDER, der Überwachungsstaat, aus den anonymisierten Daten könnten jederzeit mit den großen Magnetstreifenrechnern der Einzelne identifiziert werden.
Auszug aus einem Flugblatt: „Die Volkszählung schadet dem Schanzenviertel“ 'Weiterhin ist es möglich, mit Hilfe der Daten großflächige Sanierungsvorhaben anzugehen,....... und man sich genau ansehen kann, ob die Bewohner evtl. keinen Widerstand leisten werden ( alte Leute, Ausländer, Einkommensschwache) So wird man versuchen, erst die 'Willigen' abzuschieben, um dann Stück für Stück nachzuhelfen, abzureißen oder gründliche Modernisierungen vorzunehmen'.
Wenn man aus heutiger Sicht, aus der Sicht von Google, NSA, GPS, facebook, Handyortung, Gesichterkennung, Werbeprofile, die Fragen von damals sich anschaut, muss man etwas lächeln.
Folgende Daten wurden anonymisiert erfasst: Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss, Einkommen, Miete, Arbeitsverhältnis und Länge des Arbeitswegs.
Die unterschiedlichsten Sabotagestrategien, wie Kaffee über den Zählerbogen gießen, nicht mit Bleistift ausfüllen, falsch ausfüllen, Registriernummer abschneiden, den Zähler nicht reinlassen, den Bogen bei den Sammelstellen abgeben und so weiter sollen letztendlich die Volkszählung nicht blockiert haben.
Fehlerhaftes konnte einfach hochgerechnet werden.
Im Schanzenviertel entwickelte sich aber durch die vielen Aktionen, Gruppentreffen, Veranstaltungen eine Politisierung und eine Quartiersidentität, ein rebellischer Geist ….bis heute.
In die Zählerseite konnte ich mich auch gut einfühlen, da ich damals als junger, verbeamteter Lehrer unter Androhung von 10.000 DM Bußgeld zwangsverpflichtet wurde. Mit rechtsanwaltlicher Unterstützung konnte ich aber meinen Widerspruch damals durchsetzten.
Quellen:
Eigenes Erleben
Flugblätter aus der Zeit, eigene Sammlung
DER SPIEGEL Und sei es des Teufels eigenen Werk 21/1987
Welt-Tagesspiegel, Geschichte des Zensus von 1987, „Das Volk zählt nicht“
Hamburger Abendblatt, Auskunftfreudige Bürger bei der Volkszählung, 11.01.2013
Wikipedia, Volkszählung in der Bundesrepublik Deutschland 1987